Fünf Fragen an die Unia zu Decent Work in der Schweiz
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Melanie Wirz
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Tausende Jobs in der Schweiz sind prekär, mit Tiefstlöhnen, unsicheren Verträgen und fehlender Absicherung. Am 7. Oktober, dem Welttag für Decent Work, haben wir die Gewerkschaft Unia gefragt: Wie steht es um menschenwürdige Arbeit in der Schweiz? Hans Hartmann, stellvertretender Leiter des Präsidialsekretariats der Unia, gibt Antworten.
1. Wo sieht die Unia die grössten Herausforderungen für Decent Work in der Schweiz?
Hans Hartmann: Bei den Tieflöhnen und immer prekäreren Arbeitsverhältnissen. In der Schweiz sind Tieflöhne immer noch weit verbreitet. Eine halbe Million Beschäftigte verdienen lediglich um die 4000 Franken pro Monat. Viele von ihnen haben nicht einmal eine Vollzeitstelle und müssen sich mit noch weniger durchschlagen. Stundenlohn- oder sogar Nullstunden-Verträge ohne garantierte Minima schaffen zusätzliche Unsicherheit. Kein Wunder müssen immer mehr Arbeitnehmende Zweit- und Drittjobs annehmen. Sie müssen sich ausbeuten lassen und entkommen doch nicht der Armut.
2. Welche Branchen sind besonders betroffen?
Viele Tieflohnstellen gibt es im Dienstleistungssektor, vor allem in Branchen, die viele Frauen oder Migrant*innen beschäftigen. So sind beispielsweise fast die Hälfte aller Stellen im Gastgewerbe Tieflohnstellen. Im Detailhandel ist jede vierte, in der Reinigung jede dritte und in den Branchen der persönlichen Dienstleistungen (u.a. Coiffeurgewerbe, Wäschereien) sogar jede zweite Stelle eine Tieflohnstelle. Auch in der Logistik, in industriellen Zulieferbetrieben oder in weiblich geprägten Industriebranchen, können die Löhne sehr tief sein. In Grenzregionen wie dem Tessin oder dem Jura z.B. gibt es Betriebe, die kaum mehr als 3000 Franken zahlen.
3. Welche Rolle spielt menschenwürdige Arbeit im Kampf gegen soziale Ungleichheit in der Schweiz?
Die Vermögensverteilung ist in der Schweiz extrem ungerecht. Umso mehr fallen für die grosse Mehrheit Jobsicherheit und Löhne ins Gewicht. Nur weil die Gewerkschaften in der ersten Phase nach der Jahrhundertwende für eine halbwegs ausgeglichene Lohnentwicklung gesorgt haben, sind die sozialen Spannungen nicht explodiert. Doch in den letzte Jahren ging die Lohnschere immer weiter auf. Während die Vermögenden immer neue Dividendenrekorde einstreichen, haben auch normal verdienende Familien immer mehr Mühe, Mieten und Krankenkassenprämien zu zahlen. So wird es mit dem sozialen Frieden bald vorbei sein.
«Bürger*innen müssen sich für eine gute Sozial- und Arbeitsgesetzgebung sowie für eine solidarische Migrations- und Aussenpolitik der Schweiz einsetzen. Letztlich steht und fällt soziale Gerechtigkeit mit den Arbeitsverhältnissen.»
4. Was tun Gewerkschaften wie die Unia? Was konnte bisher erreicht werden?
Wir kämpfen für würdige Mindestlöhne und gute Arbeitsbedingungen sowie gegen Dumping und Abzockerei. In einigen Kantonen haben wir gesetzliche Mindestlöhne erreicht. Im Arbeitsgesetz müssen wir immer wieder Verschlechterungen abwehren und Referenden gegen noch flexiblere Arbeitszeiten gewinnen. Die Raubritter-Praktiken von globalen Techkonzernen wie Uber bekämpfen wir auf der Strasse und vor Gericht. Bei Massenentlassungen erstreiken wir Alternativlösungen oder Sozialpläne. Vor allem aber erreichen wir immer wieder Verbesserungen in Gesamtarbeitsverträgen für über zwei Millionen Arbeitnehmende. Und ganz wichtig: Mit zehntausenden Kontrollen vor Ort schauen wir dafür, dass die Verträge auch tatsächlich durchgesetzt werden.
5. Was können Konsumenten und Bürgerinnen tun?
Konsument*innen, die es sich leisten können, kaufen fair produzierte Produkte und beziehen saubere Dienstleistungen. Das alleine wird Ausbeutung aber nicht zum Verschwinden bringen. Bürger*innen müssen sich für eine gute Sozial- und Arbeitsgesetzgebung sowie für eine solidarische Migrations- und Aussenpolitik der Schweiz einsetzen. Letztlich steht und fällt soziale Gerechtigkeit mit den Arbeitsverhältnissen. Darum sollte sich jede und jeder in einer Gewerkschaft organisieren. Nur so haben wir eine Chance, die gemeinsamen Interessen der Vielen gegen die Attacken der globalen Oligarchie der Superreichen durchzusetzen.
Die Gewerkschaft Unia
Die Unia ist die grösste Gewerkschaft der Schweiz mit rund 170’ 000 Mitgliedern. Sie vertritt Beschäftigte in den Bereichen Bau, Industrie, Gewerbe und private Dienstleistungen. Die Gewerkschaft verhandelt Gesamtarbeitsverträge (GAV), die Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen für über eine Million Arbeitnehmende regeln. Mitglieder profitieren von Rechtsschutz, Beratung und Unterstützung bei Arbeits-, Sozialversicherungs- oder Berufsausbildungsfragen. Zudem ist die Unia politisch aktiv: Sie führt Kampagnen, setzt sich für faire Arbeits- und Sozialgesetze ein und kämpft für Verbesserungen, von denen die breite Arbeitnehmer*innenschaft profitiert.
Das können Sie dagegen tun
Was kann ich als Einzelne*r tun gegen prekäre Jobs und Ausbeutung? Hier finden Sie fünf einfache Tipps, wie Sie sich für faire Arbeit einsetzen können.
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Melanie Wirz