«Solidarität darf nicht an Grenzen enden»
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Melanie Wirz · 0 Kommentare
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Was bedeutet Entwicklungszusammenarbeit in einer Zeit wachsender globaler Krisen? Warum ist ein starker NGO-Verbund wie Alliance Sud heute wichtiger denn je? Und wie begegnet man wachsender Kritik an der Arbeit von Entwicklungsorganisationen? Wir haben nachgefragt bei Solidar-Geschäftsleiter Felix Gnehm, der das Amt des Präsidenten von Alliance Sud für den aktuellen Zweijahreszyklus übernommen hat.
«Kein Land lässt sich durch externe Unterstützung allein vollständig aus der Armut befreien. Aber dort, wo wir gezielt ansetzen, erzielen wir nachweisbare Erfolge, insbesondere in den Bereichen Armut, Arbeitsrechte, Gesundheit und Bildung.»
Inwiefern?
Die Arbeit von NGOs wird mit den Vorwürfen konfrontiert, intransparent oder ineffizient zu sein. Diese sind unbegründet. Unsere Organisationen sind ZEWO-zertifiziert und legen ihre Zahlen offen. Der Grossteil der Beiträge und Spenden wird in konkreten Projekten in einkommensschwachen Regionen der Welt eingesetzt. Der überwiegende Teil unserer Mittel stammt ausserdem nicht von staatlicher Seite, sondern aus privaten Spenden.
Wie begegnest du diesen Vorwürfen?
Mit Transparenz und Kommunikation. Viele haben unrealistische Erwartungen – etwa, dass wir Länder im Alleingang aus der Armut befreien sollen. Unser Ziel ist es, Ungleichheit zu verringern, Armut zu lindern, Menschenrechte zu stärken – und das gelingt in vielen Bereichen sehr gut. Wer aber erwartet, dass sich Länder wie Burkina Faso oder Mosambik nach 20 oder 30 Jahren vollständig gewandelt haben, missversteht die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit. Kein Land lässt sich durch externe Unterstützung allein vollständig aus der Armut befreien. Aber dort, wo wir gezielt ansetzen, erzielen wir nachweisbare Erfolge, insbesondere in den Bereichen Armut, Arbeitsrechte, Gesundheit und Bildung. Auch im humanitären Bereich, wo es darum geht, grundlegende Rechte auf ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Wasser, Gesundheit oder Schutz vor Gewalt zu sichern, zeigen sich diese Wirkungen besonders deutlich. Ohne diese Beiträge ginge es unzähligen Menschen erheblich schlechter. Und kaum eine Branche wird so intensiv evaluiert und muss ihre Wirkung so umfassend belegen wie unsere.
Wir müssen aber noch besser darin werden, diese Wirkung sichtbar zu machen – durch klare Kommunikation, durch belegbare Resultate, durch Geschichten, die zeigen, was erreicht wurde. Das ist entscheidend, um das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Politik zu erhalten und zu stärken. Denn je besser wir unsere Arbeit vermitteln, desto eher finden wir Gehör – auch im Parlament.
«Wenn internationale Mittel stoppen, spüren das die Schwächsten zuerst.»
Du bist gleichzeitig Geschäftsführer von Solidar Suisse. Wie erlebst du dieses Doppelmandat?
Die Geschäftsstelle von Alliance Sud arbeitet sehr professionell und zusammen mit der Vizepräsidentin Karolina Frischkopf von HEKS leite ich das Präsidium ehrenamtlich. Ich sehe es als spannende Bereicherung, bei Alliance Sud auch auf strategischer Ebene und an der gemeinsamen Positionierung mitzuwirken. Die Kooperation zwischen den Mitgliedsorganisationen ist sehr eng, transparent und partnerschaftlich. Das finde ich enorm spannend in dieser Zeit. Meine Hauptverantwortung bleibt jedoch bei Solidar Suisse, wo wir in den nächsten Jahren viel zu tun haben.
Du hast es bereits angetönt, du hast in einer sehr herausfordernden Zeit das Präsidium von Alliance Sud übernommen. Erst in der Wintersession hat das Parlament beschlossen, dass die internationale Entwicklungszusammenarbeit massiv gekürzt wird.
Durch die beharrliche Arbeit von Alliance Sud konnten zum Glück noch viel grössere Kürzungen, die im Parlament diskutiert wurden, abgewendet werden. Aber auch die beschlossenen Kürzungen sind ein grosser Fehler. Die Sicherheit der Schweiz entsteht nicht nur militärisch – sondern hängt auch von der Lösung globaler Probleme ab. Internationale Zusammenarbeit reduziert unsere Sicherheitsrisiken beispielsweise in den Bereichen Klimawandel, wirtschaftliche Zusammenarbeit, globale Gesundheit inklusive Epidemien, Extremismus sowie Migration und Flucht. Wenn ein Land wie die Schweiz die Handels- und Steuerpolitik weiterhin nur so gestaltet, dass es nur unserem Land dient, wird Ungleichheit weiter steigen. Noch drastischer wirkt sich die Vernachlässigung humanitärer Krisen wie im Jemen, Burkina Faso, Palästina oder Myanmar aus, das wird uns auf die Füsse fallen. Wenn internationale Mittel stoppen, spüren das die Schwächsten zuerst. NGOs sind sehr nah zu den Menschen und oft die letzten, die noch vor Ort wirken können. Wir geben Menschen eine Stimme, wo staatliche Kanäle versagen.
Was bedeutet das für die NGOs?
Wenn sich die Schweiz weiter aus dem entwicklungspolitischen Engagement zurückzieht, leidet ihre Glaubwürdigkeit bei Regierungen und der Bevölkerung vor Ort. Zudem sind Erfolge in der Armutsbekämpfung reversibel, prekäre Armut steigt rasch wieder an und somit auch damit einhergehende Symptome wie Extremismus, prekäre Migration und Umweltzerstörung. Wir NGOs sind weiterhin vor Ort und versuchen mit aller Kraft, diese negative Spirale zu bremsen. Unsere Bedeutung als zivilgesellschaftliche Akteure steigt in dieser zunehmend komplexen Welt. Gerade deshalb ist Alliance Sud als Verbund zentral.
«Es braucht ein Bewusstsein dafür, wie privilegiert wir in der Schweiz leben. Gerade in einer zunehmend vernetzten Welt ist es entscheidend, dass wir über den eigenen Tellerrand hinausschauen und globale Verantwortung übernehmen.»
Wie können sich Organisationen auf diesen Wandel einstellen?
Viele NGOs sind solide aufgestellt, geraten aber zunehmend unter Druck. Der Krieg in der Ukraine hat Prioritäten verschoben – viele Staaten investieren mehr in Verteidigung, weniger in Entwicklung. Wir fordern angesichts der prekären Weltlage weiterhin mehr öffentliche Unterstützung. Wir suchen aber auch neue Finanzierungswege und kreative Partnerschaften, denn privates Kapital ist ja in der Schweiz zur Genüge vorhanden. Wir brauchen Flexibilität, neue Ansätze und starke Kommunikation, um die Arbeit weiterzuführen.
Was wünschst du dir von der Schweizer Bevölkerung?
Die Schweizer Bevölkerung zeigt sich bei Katastrophen immer wieder solidarisch – das ist beeindruckend. Ich wünsche mir, dass dieses Mitgefühl auch in ruhigeren oder wirtschaftlich angespannten Zeiten nicht verloren geht. Es braucht ein Bewusstsein dafür, wie privilegiert wir in der Schweiz leben – und was wir daraus ableiten können. Solidarität darf nicht an Grenzen enden. Gerade in einer zunehmend vernetzten Welt ist es entscheidend, dass wir über den eigenen Tellerrand hinausschauen und globale Verantwortung übernehmen. Mich stimmt optimistisch, dass eine Mehrheit nach wie vor hinter der Entwicklungszusammenarbeit steht.
Wagen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft: Wie sieht die NGO-Landschaft 2035 aus – etwa Alliance Sud und ihre Mitglieder?
Eine exakte Prognose ist schwierig, aber ich bin überzeugt: Unsere Arbeit wird auch 2035 relevant sein. Themen wie Klimakrise, Migration, soziale Gerechtigkeit und Ausbeutung verschwinden nicht – im Gegenteil, sie werden dringlicher. Der Bedarf an solidarischer, unabhängiger Zivilgesellschaft bleibt bestehen. Wenn wir es schaffen, Vertrauen zu bewahren, Wirkung aufzuzeigen und neue Generationen für unser Anliegen zu gewinnen, hat auch das spendenfinanzierte Modell Zukunft. Vielleicht arbeiten wir in zehn Jahren noch enger zusammen, bündeln Kräfte, vertreten Anliegen stärker gemeinsam. Das wäre ein wünschenswerter Weg – denn als Verbund sind wir schlagkräftiger als jede Organisation für sich allein.
Über Felix Gnehm
Felix Gnehm arbeitet seit 2013 bei Solidar Suisse, davon sieben Jahre als Geschäftsleiter, drei davon als Co-Geschäftsleiter. Er ist studierter Geologe und absolvierte 2004 das ETH-NADEL-Programm für Global Cooperation and Sustainable Development. Von 2025 bis 2026 amtet er als Präsident von Alliance Sud.
Über Alliance Sud
Alliance Sud ist ein Schweizer Kompetenzzentrum für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik. Der Verein besteht aus ordentlichen Mitgliedern wie Solidar Suisse und unterstützenden und assoziierten Mitgliedern. Ziel von Alliance Sud ist es, die Politik der Schweizer Regierung und des Parlaments zugunsten der ärmsten Menschen im Globalen Süden zu beeinflussen.
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Melanie Wirz
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