Ein Lohn, der zum Leben reicht

Ein existenzsichernder Lohn ist zentral für faire Arbeitsbedingungen und ein würdiges Leben – und er ist ein Menschenrecht. Trotzdem ist er in den Ländern des Globalen Südens für viele Menschen keine Realität, und auch in Europa gibt es Working Poor. Welche Bedürfnisse müssen für eine menschenwürdige Existenz befriedigt sein? Wie wird ein Existenzlohn berechnet? Und welche Bedeutung hat er für Labels, die garantieren sollen, dass die hier konsumierten Produkte entlang der gesamten Lieferkette unter würdigen Arbeitsbedingungen hergestellt wurden?

Text: Wiranta Ginting, Stellvertretender internationaler Koordinator der Asia Floor Wage Alliance

In der globalen Arbeiter*innenbewegung wird der Existenzlohn seit Jahrzehnten diskutiert. Die Idee existierte bereits bei der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO im Jahr 1919 und ist ein verbrieftes Menschenrecht. So steht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1949: «Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine menschenwürdige Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmassnahmen.»

Ausbeutung in der Textilindustrie

Um zu erklären, worum es beim Living wage geht, gehe ich auf die Situation in der asiatischen Bekleidungsindustrie ein, denn die Asia Wage Floor Alliance (AFWA) setzt sich seit 2008 für existenzsichernde Löhne für Textilarbeiter*innen ein. Die Realität der globalen Bekleidungslieferkette ist hart: Internationale Modemarken drohen, ihre Produktion zu anderen Lieferant*innen oder in andere Länder zu verlagern, wenn die Arbeitskosten steigen. Um Wettbewerbsvorteile zu erreichen und so die Marken im Land zu halten, drücken die nationalen Regierungen die Löhne. Diese Dynamik führt dazu, dass den Beschäftigten Armutslöhne bezahlt werden. Trotz massiver Überstunden reichen diese nicht aus, um ihre Familien zu ernähren. Gleichzeitig erzielen die Markenunternehmen hohe Gewinne.

Die Marken müssen ihre Einkaufspraxis ändern

Inzwischen haben Politiker*innen in der Region die Notwendigkeit eines kollektiven Ansatzes zur Sicherung von existenzsichernden Löhnen erkannt: Dies führte zur Einführung des Asia-Floor-Wage-Konzepts (AFW) und der Gründung der Asia Floor Wage Alliance (AFWA) im Jahr 2007. Die AFWA fordert die internationalen Marken auf, nicht länger die Arbeitskosten zu drücken, sondern den Mindestlohn schrittweise aufzustocken, bis ein angemessenes Niveau erreicht ist. Um dies zu ermöglichen, müssen sie parallel die Preise für die Lieferant*innen anpassen. Denn die Verbesserung der Arbeitsbedingungen setzt eine Änderung der Einkaufspraxis voraus. Das AFW-Konzept mit seinen existenzsichernden Löhnen hat in den letzten zehn Jahren internationale Anerkennung gefunden und wurde im jüngsten ILO-Bericht über Lohnpolitik anerkannt.

Existenzsichernder Lohn vs. Mindestlohn

Der existenzsichernde Lohn wird oft mit dem Mindestlohn verwechselt. Der Mindestlohn ist die gesetzlich vorgeschriebene Schwelle, damit die Arbeitnehmenden die physischen Bedürfnisse befriedigen können, die zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft erforderlich sind. Wie Tabelle 1 zeigt, beträgt er in vielen Ländern nur einen Bruchteil eines Existenzlohns. Dieser besteht im Einkommen, das Arbeitnehmer*innen benötigen, um in einem bestimmten Land oder einer spezifischen Region einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen. Er ist also an die sozialen Bedürfnisse der Arbeiter*innen gebunden und muss die Grundbedürfnisse für ein*e Arbeitnehmer*in und ihre*seine Familie an ihrem Wohnort decken. Dazu gehören Essen, Wasser, Wohnung, Bildung, Transport, Kinderbetreuung und Gesundheitsversorgung, Ersparnisse für Unvorhergesehenes und Notfälle sowie Sozialversicherungsleistungen oder Steuern, je nach den unterschiedlichen Lohnnormen und -konventionen in den einzelnen Ländern.

Der Existenzlohn sollte den Grundbedarf der Arbeiter*innen und ihrer Familien decken.

Das Asia-Floor-Wage-Konzept

Das AFW-Konzept ist ein regionales Lohnmodell, das im Gegensatz zu nationalen Mindestlöhnen existenzsichernde Löhne vorsieht. Es bildet die Grundlage für angemessene Löhne in der Bekleidungsindustrie in Asien und berücksichtigt die spezifische Situation von Frauen, die in der Textilindustrie die Mehrheit der Arbeiter*innen ausmachen. Die AFWA definiert einen existenzsichernden Lohn als den Verdienst aus einer Standard-Arbeitswoche (nicht mehr als 48 Stunden), der es einer Textilarbeiterin ermöglicht, Essen, Miete, Gesundheitsfürsorge, Kleidung, Transport und Bildung zu finanzieren und etwas für unerwartete Ausgaben zu sparen.

Grundlage für die Berechnung sind Ausgaben für die erwähnten Grundbedürfnisse für drei «Versorgungseinheiten», die wahlweise aus einer erwachsenen Person oder zwei Kindern bestehen. Indem der Lohn einer Arbeiterin für zwei weitere Versorgungseinheiten ausreichen muss, wird die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit berücksichtigt, die in erster Linie von Frauen geleistet wird. Die Schätzungen des existenzsichernden Lohns basieren auf von den Gewerkschaften durchgeführten Erhebungen unter Textilarbeiter*innen. Die Hauptausgaben fallen für Lebensmittel an, wofür nach Vorgabe der ILO von einem allgemeinen Bedarf von 3000 Kalorien pro Tag und Person ausgegangen wird, während der konkrete Lebensmittelkorb von Land zu Land variiert. Wie die Tabelle zeigt, reichen die gegenwärtigen Mindestlöhne in den meisten Ländern nur für ungefähr 2000 Kalorien.  Die Deckung der weiteren grundlegenden Bedürfnisse der Familie ist schon gar nicht möglich, auch wenn mehrere Personen zum Familieneinkommen beitragen.

Mit Krisen wie Covid besser umgehen

In der Zeit nach der Covid-Krise wird die Frage des existenzsichernden Lohns für Bekleidungsarbeiterinnen, die von Armutslöhnen leben, noch wichtiger. Die Covid-Krise verschlimmerte die Situation der Textilarbeiter*innen zusätzlich. Sie führte zu einer höheren Verschuldung, da die Arbeiter*innen sich lebensnotwendige Dinge wie Essen, Unterkunft, Bildung und Gesundheitsversorgung nicht mehr leisten konnten. Ein existenzsichernder Lohn hätte diese Krise verhindern können und ist von entscheidender Bedeutung, damit die Arbeiter*innen ein würdiges Leben führen und mit zukünftigen Krisen umgehen können.

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