Klaus Thieme: Das Thema Klimakrise ist akuter als jemals zuvor – was Solidar Suisse und SOLIDAR in ihrer Arbeit stark beschäftigt. Die Lebensbedingungen vieler Menschen sind weltweit gefährdet.
Und wie. 2020 war ein weiteres Rekordjahr in Bezug auf Klimawandel und Umweltzerstörung: Es war eines der drei wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen. Wir sehen immer mehr extreme Wetterereignisse wie Grossbrände, grossflächige Überschwemmungen und schwere Dürren – überall auf der Welt. Meistens sind marginalisierte und arme Menschen unverhältnismässig stark von der Klima- und Umweltkrise betroffen, obwohl sie am wenigsten dazu beitragen.

Was muss geschehen?
Um dem Klima- und Umweltnotstand zu begegnen, sind strukturelle Veränderungen unserer Volkswirtschaften dringend notwendig. Damit meine ich die Art, wie wir leben, produzieren, konsumieren, reisen und arbeiten. Wir müssen jedoch sicherstellen, dass dieser Umbau so gehandhabt wird, dass soziale Ungleichheiten nicht verschärft werden und die Kosten nicht auf die Ärmsten abgewälzt werden. Im Kampf gegen den Klimawandel braucht es soziale Gerechtigkeit.

Wie lassen sich ökologische und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden?
Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist der ökologische Umbau nicht unvereinbar mit den sozialen Zielen. Das gehört sogar dringend zusammen. Klima- und Umweltmassnahmen bieten eine Chance für Entwicklung und Innovation, für die Verbesserung der lokalen Umwelt und Wirtschaft. Dafür müssen die am meisten entwickelten Länder und die reichsten Unternehmen die Verantwortung für ihre unverhältnismässigen Auswirkungen auf den globalen Klimawandel übernehmen.

Denn die Uhr tickt.
Genau. Die Umweltkrise jetzt zu bekämpfen, kann helfen, eine gleichberechtigtere, widerstandsfähigere, wohlhabendere und blühendere Welt für alle zu schaffen. Der Wandel wird kommen, ob wir wollen oder nicht – wie dramatisch und tiefgreifend er sein wird, hängt davon ab, was wir heute tun.

Aus der gewerkschaftlichen Ecke haben wir den Begriff «Just Transition» übernommen, wenn wir über diesen gerechtigkeitsorientierten Ansatz des Umbaus reden.
Der Begriff «Just Transition» wurde erstmals von der internationalen Arbeiterbewegung verwendet, um die Versöhnung zwischen der Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen, und der Sicherstellung von menschenwürdigen Arbeitsplätzen für die Arbeitnehmenden zu definieren. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat dazu Umsetzungsrichtlinien veröffentlicht und wurde so zu einer der wichtigsten Befürworter*innen des Konzepts.

Was bedeutet das für SOLIDAR und seine Netzwerkmitglieder?
Für uns bedeutet das Handeln für einen gerechten Wandel, dass wir sowohl die soziale als auch die ökologische Agenda miteinander verknüpfen und vorantreiben. Wir definieren eine «sozial gerechte Transition» als Garantie, dass die Rechte und Bedürfnisse der betroffenen Gemeinschaften bei allen Transformationsprozessen und einschneidenden Anpassungen berücksichtigt werden. Dafür müssen soziale und ökologische Ziele als gleichwertig und sich gegenseitig verstärkend angesehen werden.

In der Schweiz hat es die rechtsgerichtete SVP geschafft, mit vorgeschobenen sozialen Argumenten die CO2-Besteuerung auszubremsen. Was können wir dem entgegensetzen?
Soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften stehen an vorderster Front im Kampf für eine gerechte, inklusive und nachhaltige Welt. Denn die Initiativen, die kleinen und grossen Projekte, all die Reparatur-Cafés und Tauschbörsen oder die Übernahme nachhaltiger Lebensweisen sind grundlegend. Aber sie können nicht allein die Aufgabe bewältigen, einen erfolgreichen und gerechten grünen Übergang zu gewährleisten.

Was fehlt?
Die Mächtigen hören uns noch nicht  zu. Deshalb müssen alle Akteur*innen – von der Einzelperson bis zu den politischen Parteien – zusammenkommen und mit einer Stimme sprechen. Dies muss auf allen Ebenen geschehen – lokal, national, europäisch, weltweit. Nur so werden wir in der Lage sein, wirklich niemanden zurückzulassen. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Entscheidungsträger*innen überall die Bedingungen für eine sinnvolle und institutionalisierte Beteiligung der Zivilgesellschaft schaffen. Die Zukunft unserer Gesellschaften hängt davon ab.

Wie geht’s jetzt weiter?
Im September haben wir mit anderen grossen europäischen Netzwerken die «European Alliance for a Just Transition» (Europäischen Allianz für einen gerechten Wandel) gegründet. Wir fordern die Institutionen der Europäischen Union, die nationalen Regierungen und die lokalen Verwaltungen und Behörden jetzt auf zu handeln, um einen gerechten Übergang für alle zu ermöglichen. Dies beginnt durch Partizipation, durch einen Dialog der Zivilgesellschaft mit allen Beteiligten.