In Kambodscha produzieren fast eine Million Arbeiter*innen Textilien und Schuhe – die wichtigsten Exportgüter des Landes. Doch vom Wirtschaftswachstum profitieren sie kaum.
Text: Deeksha Gulati, Projektkoordinatorin Asienprogramm für faire Arbeit
Tiefe Löhne, hohe Verschuldung, mangelnder Arbeitsschutz: Um die schlechten Arbeitsbedingungen in den globalen Lieferketten zu verbessern, lancierte die Internationale Arbeitsorganisation ILO 2001 das Programm Better Factories Cambodia (BFC). Zuvor waren private Audits der Unternehmen die einzige Kontrolle der Arbeitsbedingungen. Arbeiter* innen und Gewerkschaften hatten kaum Zugang zu den Ergebnissen. Better Factories schliesst diese Lücke: Das Programm kontrolliert die Arbeitsbedingungen in Fabriken und publiziert die Ergebnisse auf einem Internetportal, das öffentlich zugänglich ist. Zunächst befassten sich Arbeiter*innen und Gewerkschaften aber kaum mit den auf dem Portal veröffentlichten Befunden, weil die Navigation schwierig und die Informationen nicht klar verständlich waren. Deshalb begann Solidar Suisse 2018 gemeinsam mit kambodschanischen Gewerkschaften die Arbeiter*innen zu schulen, damit sie auf die Daten zugreifen und diese für Verhandlungen mit den Arbeitgebenden nutzen können.
Belegte Missstände
Inzwischen sind 6518 Arbeitnehmende und Gewerkschafter*innen geschult worden. Das machte aus einem Instrument der Imagepflege für Unternehmen ein Mittel zur Einforderung der Arbeitsrechte. «Wir dokumentieren alles: Konflikte, verweigerte Urlaubstage, verspätete Zahlungen. Dadurch, dass wir der Geschäftsleitung Beweise für die Probleme präsentieren konnten, haben wir zum Beispiel erreicht, dass übelriechende Wasserspender entfernt und die Belüftung in den Produktionshallen verbessert wurden», erzählt Moa Srey Mom von der Cambodian Alliance of Trade Unions (CATU).
Mit den Belegen können die Beschäftigten von den Arbeitgebenden die Einhaltung von Standards einfordern – auch bei Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge. Dies verschiebt das Kräfteverhältnis: Die Unternehmensleitung kann Missstände nicht mehr negieren und die Anliegen der Arbeitnehmenden als anekdotisch abtun.
Arbeiter in einer kambodschanischen Kleiderfabrik. Die Konfrontation der Arbeitgebenden mit dokumentierten Missständen hat zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie geführt.
Konkrete Erfolge
Mit der Zeit begannen die Arbeiter*innen, auch eigene Daten zu generieren: Sie kontrollierten, ob die behauptete Einhaltung der Bestimmungen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach. So konnten sie die Arbeitgebenden über die jährlichen formellen Audits hinaus zur Rechenschaft ziehen. Mit weitreichenden Folgen: Fabriken, in denen die Arbeiter*innen geschult worden waren, erzielten Fortschritte. Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz wurden verbessert, Löhne und Überstunden bezahlt, Abfindungen bei Entlassungen gewährt, Hitzestress und geschlechtsspezifische Gewalt angegangen. In einer Fabrik gelang es aufgrund der Daten zum Beispiel, eine Erhöhung der Essenszulage von 40 auf 60 Rappen und eine freiwillige Gesundheits- und Urlaubszulage von zehn Franken zu erreichen. Diese Erfolge stärken auch das Selbstvertrauen und die Handlungsfähigkeit der Arbeitnehmenden, weil sie sehen, dass sie ihre Rechte durchsetzen können.
Doch es gibt auch Kritik: Zu detaillierten Berichten haben die Gewerkschaften keinen Zugang; die Namen der Fabriken werden online in englischer Sprache aufgeführt, was es den Arbeitnehmenden erschwert, ihre Fabrik zu finden; die Website ist schwer zugänglich, weshalb sie Arbeiter*innen ohne Schulung kaum nutzen können. Die Gewerkschaften haben Forderungen zur Stärkung der Arbeiter*innen im Better-Factories-Programm bei der ILO deponiert und zum Beispiel erreicht, dass die Hauptwebseiten in die Landessprache Khmer übersetzt wurden.
Die Erfahrung in Kambodscha zeigt, dass dann bedeutende Veränderungen vorangetrieben werden können, wenn starke Gewerkschaften die öffentlich zugänglichen Daten als Hebel für die Rechenschaftspflicht, die Stärkung ihrer Verhandlungsmacht in der Fabrik und für branchenweite Verbesserungen nutzen können und so zu Agent*innen des Wandels werden.
Unser Magazin Soli
Die globalen Wertschöpfungsketten unserer Konsumprodukte sind komplex und schnelllebig, allein ihre Transparenz ist eine Herausforderung. Und sie sind von enormen Machtunterschieden geprägt: oben Unternehmen aus reichen Ländern, die hohe Profite einfahren, unten Arbeiter*innen aus dem Globalen Süden, die nicht von ihrem Lohn leben können. Die Erfahrung zeigt: Freiwillige Selbstverpflichtungen von Unternehmen verhindern die Ausbeutung von Arbeiter*innen und die Zerstörung der Umwelt nicht.
Erfahren Sie in der neuen Soli, wie wir uns für verbindliche Regelungen einsetzen.